Mittwoch, 25.5.2016 – Toblach/Sexten in Südtirol
Als morgens der Wecker schellte, war es eiskalt im Camper, und wir trauten uns gar nicht, aufzustehen. Schnell schlüpfte ich aus dem Bett, schmiss die Heizung an und kroch wieder in den warmen Schlafsack. 20 Minuten später war es schon etwas angenehmer, und das Aufstehen war nicht mehr ganz so schlimm. Wir machten uns wanderfertig, frühstückten und fuhren gegen 9 Uhr los zum Lago Antorno, wo wir – wie gestern – den Camper stehen ließen. Um 10.20 Uhr brachen wir zu unserer Wanderung zum Rifugio Auronzo, das sich auf 2.320 Höhenmetern befindet, auf.
Es war sonnig und am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Es versprach, ein richtig schöner Tag zu werden. Nach etwa 15 Minuten bogen wir, etwa 100 m vor der Mautstation, nach rechts auf den markierten Wanderweg ab (man kann alternativ auch ca. 5 km der Asphaltstraße folgen). Dieser führte uns zunächst durch sanft geschwungenes Gelände und lichten Wald. Ich freute mich schon darüber, wie angenehm und einfach der Weg ist, doch diese Freude sollte nicht allzu lange währen. Wir hatten erst wenige hundert Meter zurückgelegt, da mussten wir einen Bach überqueren. Hier verfluchte ich mich das erste Mal dafür, dass ich meine Trekkingstöcke zu Hause vergessen hatte. Trotzdem kamen wir trockenen Fußes auf der anderen Seite an… Ja, auch ich, selbst wenn ich es nicht so mit der Balance habe. Nun führte der Pfad – schmal, steil und steinig – nach links in den dichten Wald hinauf. Wir gerieten ordentlich ins Schnaufen und Schwitzen und mussten immer mal wieder eine kurze Pause einlegen. Aber im Großen und Ganzen kamen wir zügig voran.
Schließlich mündete der Weg auf einem Kamm. Hier mussten wir den Hang queren, um den mächtigen Col delle Bisce zu umgehen. Unglücklicherweise war der Berghang noch komplett schneebedeckt. Nur eine schmale Trampelspur wies uns den Weg. Der verharschte Schnee stellte sich als ausgesprochen rutschig dar, und da der Pfad wirklich sehr schmal war und zu unserer Linken der Hang direkt steil nach unten abfiel, mussten wir gut aufpassen, wo wir hintreten, damit wir nicht abrutschten. Frank hatte damit keine Probleme, aber mir kam mal wieder meine Höhen- bzw. Absturzangst in die Quere. Und so kroch ich in Zeitlupe, leicht hyperventilierend und zeternd, die schmale Spur entlang. Im Minutentakt jammerte ich darüber, wie sehr ich meine Trekkingstöcke vermisste. Natürlich änderte das nichts, aber ich musste mir das einfach von der Seele reden und Frank ein bisschen nerven. Ich war unglaublich erleichtert, als die Hangquerung unterhalb des Monte Campedelle endlich endete.
Der Trampelpfad führte nun in einem Linksbogen durch den Schnee ein gutes Stück bergab. Frank rannte mutig drauf los und war in Nullkommanichts sturzfrei unten angekommen. Dort wartete er nun mit ausgebreiteten Armen und Knutschmund auf mich und animierte mich, ebenfalls einfach drauflos zu rennen. Aber das wäre definitiv zu einfach und undramatisch gewesen. Schritt für Schritt stakste ich, mit nach hinten verlagertem Gewicht und einer Leidensmiene, den verschneiten Hang hinab und warf Frank zwischendurch böse Blicke zu. Prompt rutschte ich weg, verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Po. Also, mit Trekkingstöcken wäre das ja nicht passiert. Fluchend rappelte ich mich wieder auf und versuchte nun im Seitwärtsgang nach unten zu rutschen. Irgendwann war es geschafft, und ich konnte endlich wieder anfangen zu atmen. Nun ging es ein Stück bergauf, bis der Wanderweg kurz darauf auf die Mautstraße stieß. Bis zum Rifugio Auronzo sind es nun – wenn man der Straße folgt – nur noch etwa vier Kehren. Wir entschieden uns allerdings dafür, diese abzukürzen, indem wir die Straße querten und auf der anderen Seite weiter dem Wanderweg folgten. Hier lag gottseidank kein Schnee mehr (sonst hätte ich auch definitiv die Asphaltstraße genommen), aber der Aufstieg war extrem steil und sehr schweißtreibend. Teilweise krabbelten wir auf allen Vieren den Hang hinauf, und uns lief der Schweiß in Bächen am Körper hinunter. Doch je höher wir gelangten, desto atemberaubender war der Blick nach hinten auf die wunderschöne Bergwelt. Irgendwann wurde der Weg flacher und stieß schließlich wieder auf die Mautstraße. Nun hatten wir es fast geschafft. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite führte ein ordentlicher Kiesweg die letzten Meter hinauf zum Rifugio, das man von hier aus schon sehen konnte.
Hinter der Hütte erhoben sich spektakulär die Südwände der Westlichen und der Großen Zinne, während man die Kleine Zinne aus dieser Perspektive kaum sehen konnte. Überhaupt hat man von hier aus noch lange nicht das weltberühmte Drei-Zinnen-Panorama. Dazu muss man die Drei Zinnen erstmal umrunden. Das war uns vorher ehrlich gesagt gar nicht bewusst gewesen.
Na ja, zunächst machten wir mal eine kleine Pause und erholten uns ein bisschen von den Strapazen. Wir hatten etwa 2 ½ Stunden für die bisherige Wanderung benötigt, und so wie es nun aussah, waren wir längst noch nicht am eigentlichen Ziel. Ich mampfte zwei Cantuccinis, die ich mir mit zwei Raben teilte. Eine Wanderkarte am Wegrand gab uns die Auskunft, dass die Drei Zinnen Umrundung ab dem Rifugio Auronzo etwa 3-4 Stunden in Anspruch nimmt. Da es noch früh genug war, wollten wir das auf jeden Fall mal versuchen.
Von der Auronzohütte folgten wir dem bequemen, breiten Schotterweg (Nr. 101) entlang des südlichen Bergrückens der Zinnen in Richtung Nordosten. Der Blick auf die umliegende schroffe Bergwelt und das eingeschlossene enge Tal von Auronzo di Cadore ist von hier aus einfach gigantisch. Ständig blieben wir stehen und machten Fotos. Nach etwa 20 Minuten passierten wir die kleine Cappella degli Alpini. 10 Minuten später erreichten wir die auf 2.344 Höhenmetern gelegene, nur im Sommer bewirtschaftete Schutzhütte „Rifugio Lavaredo“. Bei der Schutzhütte mussten wir uns erstmal orientieren, denn hier lag wieder jede Menge Schnee und ein Weg war auf den ersten Blick nicht erkennbar.
Frank entdeckte als erster einen nach links abzweigenden Trampelpfad. Dieser war komplett im tiefen Schnee gelegen und verlief steil den Berg hinauf und dann parallel zum Hang. „Das wird dir nicht gefallen“, sagte er. „So wie es aussieht, müssen wir da hoch“. Ich folgte seinem Fingerzeig und erblickte nun auch den schmalen Pfad, den offensichtlich schon ein paar Leute hinaufgestapft waren. Sofort überkam mich ein beklemmendes Gefühl, und ich ging in Abwehrhaltung. „Da gehe ich auf keinen Fall hoch!“, sagte ich und schüttelte vehement den Kopf. „Dann werden wir wohl zurückgehen müssen“, erwiderte Frank und machte bereits Anstalten, umzukehren. Ich beschloss, es wenigstens mal zu versuchen. Manchmal muss man mich zu meinem Glück ein bisschen zwingen. Außerdem ärgere ich mich im Nachhinein nur schrecklich über mich selber, wenn ich meine Angst nicht überwinden kann.
Aber nachdem ich die ersten paar Höhenmeter stolpernd und rutschend überwunden hatte, blieb ich stehen, blickte zurück und verharrte starr vor Panik auf der Stelle. In meinem Kopf lief ein Film ab, wie ich purzelbaumschlagend den Berg hinunter rollte. Wie sollte ich hier nur jemals wieder sturzfrei runterkommen? Nein, es ging einfach nicht. Ohne irgendeine Möglichkeit mich festzuhalten konnte ich hier nicht weitergehen. Irgendwie schaffte ich es zurück nach unten und war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Wir beschlossen, den Weg hier abzubrechen, zum Rifugio Auronzo zurückzugehen und es andersherum zu versuchen…
Im Nachhinein habe ich festgestellt, dass der gerade beschriebene Weg quasi eine Abkürzung, aber nicht der Hauptweg und somit nicht die einzige Möglichkeit ist, auf die Nordseite der Drei Zinnen zu gelangen. Der gemütlichere, dafür aber längere Weg führt hinter dem Rifugio Lavaredo weiter zur Laveredo Scharte, von der aus man die klassische Form der Drei Zinnen sehen kann. Allerdings weiß ich nicht, wie weit man diesen Weg noch ohne Schwierigkeiten hätte laufen können. Hätten wir aber gewusst, dass es diesen Weg gibt, hätten wir ihn auf jeden Fall ausprobiert.
So waren wir so blöd und liefen zur Auronzohütte zurück. Von dort aus nahmen wir den Wanderweg nach Nordwesten. Er war matschig und teilweise mit Schneefeldern bedeckt, aber zunächst gut begehbar. Dennoch hätte es uns schon eine Warnung sein sollen, dass uns hier niemand entgegenkam. Wir waren quasi allein auf weiter Flur. Wir schafften es gerade mal bis zu dem Holzzaun, an dem ein Weg nach Norden zur Dreizinnenhütte abzweigt. Dann mussten wir kapitulieren. Die komplette Westseite der Drei Zinnen war mit dickem Schnee bedeckt. Auch hier war ein Trampelpfad zu erkennen, den wohl ein paar Mutige entlang gelaufen waren. Er schlängelte sich sehr schmal am steil abfallenden Hang entlang. Der alleinige Anblick verursachte mir schweißnasse Hände. Dagegen wäre der abzweigende Pfad bei der Lavaredohütte sicher ein Kinderspiel gewesen.
Schweren Herzens gaben wir endgültig auf und kehrten „leicht“ frustriert zum Rifugio Auronzo zurück. Franks Laune, die eigentlich unkaputtbar ist, war im Keller, weil er die Drei Zinnen nicht aus der richtigen Perspektive gesehen hatte, und meine Laune war im Keller, weil mich Franks verstimmter Gesichtsausdruck ärgerte und ich mich auch noch schuldig daran fühlte. Ja klar, ich hätte auch gern das berühmte Drei-Zinnen-Panorama gesehen, aber eben nicht um jeden Preis. Und auch wenn das nicht geklappt hatte, so konnte ich nicht den ganzen Tag als verloren ansehen. Die Bergwelt war absolut herrlich und die Wanderung hatte uns gigantische Aussichten beschert; der Drei-Zinnen-Blick wäre höchstens noch das Tüpfelchen auf dem i gewesen.
Leider stand uns nun das Schlimmste noch bevor: Wir mussten die 5 km lange Asphaltstraße zurück zum Lago Antorno laufen. Die Abkürzung durch die Schneefelder kam für mich nicht in Frage. Der Weg entlang der Straße stellte sich als absolut zermürbend heraus. In schier endlosen Serpentinen ging es stetig bergab. Mal abgesehen davon, dass wir ohnehin ziemlich kaputt waren, begannen nun nach kurzer Zeit auch noch die Knie zu schmerzen. Jeder Schritt wurde zu einer Tortur. Irgendwann setzten wir einfach nur noch, den Blick starr auf den Boden gerichtet, mechanisch einen Fuß vor den anderen und hofften, dass das bald ein Ende nimmt. Gegen 15.30 passierten wir endlich die Mautstation, und 10 Minuten später war es geschafft. Erleichtert krabbelten wir in unseren Camper, rissen uns die heiß gelaufenen Wanderschuhe von den pochenden Füßen und genehmigten uns erstmal ein schön kühles Getränk. Boah, was tat das gut!
Danach fühlten wir uns fit genug, um die Rückfahrt nach Sexten anzutreten. Unterwegs entdeckte Frank auf einer Koppel einige Shettlandponys mit einem winzigen Fohlen. Er drehte extra nochmal für mich um, da ich die Tiere glatt übersehen hatte. Meine Güte, was war da süß! Wir standen eine ganze Weile am Straßenrand und beobachteten das tapsige, plüschige Tierchen.
Zurück auf dem Campingplatz stellten wir uns wieder auf den Stellplatz Nummer 58. Nachbarn hatten wir in der Zwischenzeit glücklicherweise keine bekommen. So hatten wir auch heute wieder jede Menge Platz und konnten die herrliche Stille genießen.
Im nahe gelegenen Kristallbad nahmen wir eine ausgiebige Dusche. Hier war alles wunderbar sauber und gepflegt. Die Duschkabinen boten reichlich Platz und Ablagefläche. Aber vor allem konnte man das Wasser richtig schön heiß stellen, und der Wasserstrahl war nicht nur ein trauriges Rinnsal. Als Frank und ich uns etwa eine halbe Stunde später wieder im Camper trafen, waren wir ausgesprochen zufrieden und fühlten uns wie neugeboren.
Zum Abendessen brutzelten wir uns heute selber was: Es gab Spätzle mit Speck, Ei und reichlich Käse. Den Rest des Abends verbrachten wir mit dem Sichten unserer neuesten Fotos und lesen. Draußen regnete es mittlerweile leicht, aber wir saßen ja im Warmen und hatten einen wettermäßig sehr ordentlichen Tag gehabt. Am Abend konnte es ruhig regnen… das war uns vollkommen schnuppe. Bereits um kurz nach neun fielen wir todmüde ins Bett.
Tagesetappe: 78 km
Übernachtung: Caravan Park Sexten
Preis: 37,13 € pro Nacht (11 € für den Stellplatz, 10,50 € p.P., 1,10 € Ortstaxe, 0,70 € Strom pro Kw/h, 1 € Umweltbeitrag)